Region | 18. März 2020 | Daniel Adler

Pilger Javi

Ein radikaler Optimist sucht innere Zufriedenheit

Durch die wunderschönen Gassen Heidelbergs weht ein für Mitte März eiskalter Wind. Aufgrund des neuartigen Coronavirus halten sich weniger Menschen als gewöhnlich in der Altstadt auf. Alle sind in Eile, niemand hat Zeit zu verlieren. Im krassen Kontrast zu dieser tristen Atmosphäre stehen bunte Blumen, welche die Treppe vor der Heiliggeistkirche schmücken. So wie jeden Tag der vergangenen acht Monate. Am Freitag, dem 13. März 2020 verbringt Pilger Javi den 223. Tag in Folge auf dieser Treppe. Hier schläft, isst, lacht und lebt er. Für Passanten hat der gebürtige Rheinländer stets ein offenes Ohr und ein freundliches Lächeln parat.

“Wenn ich am Tag nur einem einzigen Menschen eine kleine Freude machen kann, dann habe ich gewonnen.”

Javi, der bürgerlich Herbert Böhm heißt, sieht in Heidelberg Leidenschaft pur. Als er die Treppe der Heiliggeistkirche, sein jetziges Zuhause, zum ersten Mal sieht, passiert etwas. Was genau das ist, kann er heute kaum beschreiben. Eine positive Energie, ein Gefühl der Geborgenheit, Wärme, eine Umarmung. All das verbindet der Pilger mit dieser besonderen Treppe, von der man durch die Steingasse bis zur alten Brücke blicken kann. Wo andere Menschen kalte Steine und eine schwer Tür sehen, hat Javi einen Kraftort gefunden. Einen Ort, an dem er sein Leben selbst in die Hand nehmen und verändern kann. Diesen Drang zur Eigenverantwortung hatte er nicht immer. Mit 18 Jahren verliert er mehrere Freunde bei einem Unfall. Aus der Verdrängung heraus entwickelt sich eine Spielsucht. Herbert Böhm ist seines Lebens müde. Eine Eingebung rettet ihn:

“Mach’ was Besonderes. Also packte ich eine Decke in eine Plastiktüte und ging einfach los. Ich habe mein Leben zum ersten Mal in die eigene Hand genommen.”

Durch die wachsende Eigenverantwortung bekommt er Selbstvertrauen, Kraft, neue Lebensenergie. Seine seelischen Wunden heilen. Viele Jahre zieht er als Pilger durch Europa – Malaga, London, Rom. Eines Tages fährt er mit dem Zug Richtung Norddeutschland und hat abermals eine Eingebung: steig’ doch mal aus. Sofort ist er fasziniert von der wunderschönen Stadt am Neckar. Besonders die Altstadt zieht ihn wie magisch an. Seitdem kommt er regelmäßig nach Heidelberg, zunächst nur als Besucher. Immer wieder kehrt er vor allem an diesen einen Ort, diese Treppe, zurück. Er versucht sich als Straßenkünstler und -musiker, doch erntet viel Spott und Unmut von ansässigen Lokalbetreibern. Als 2017 sein Zwillingsbruder stirbt, verfällt Javi abermals in eine Phase tiefer Trauer. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt eine Unterkunft in Heidelberg hat, ist sein Leben geprägt von Rückschlägen. Abermals weiß er nicht, wie es weitergehen soll.

“Die Heidelberger sind dermaßen getrieben, hetzen von Termin zu Termin. Sind sie dann endlich mal zuhause, laden sie im Prinzip nur ihre Akkus für einen neuen Tag voller Hektik und Stress auf. Sie können oder wollen nicht innehalten, um Dinge einfach mal geschehen zu lassen.”

Genau dieses zwanglose “geschehen lassen” beschäftigt Javi schon seit vielen Jahren. Ihm ist es wichtig, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ohne Erwartungen, ohne Interpretation und ohne Bewertung. Diese Einstellung pflegt er nicht nur gegenüber Geschehnissen, sondern auch Menschen. Nächstenliebe bedeutet für ihn genau das. Javi beschäftigt sich viel mit Philosophie, aber auch Religion. Als religiös würde er sich jedoch nicht bezeichnen, ist aus der Kirche ausgetreten. Gläubig sei er hingegen sehr, betont er.

Javi glaubt vor allem an die Menschlichkeit. Deshalb versucht er, jeden Tag zumindest einem Menschen eine kleine Geste, ein Lächeln zu schenken. Eine Eigenschaft, die er allen Menschen wünschen würde, ist Verständnis im Sinne von Empathie. Eben diese beiden Werte, Menschlichkeit und Empathie, würden ihm gegenüber gerade eben nicht praktiziert. So wurde er durch ein nahegelegenes Restaurant der Belästigung von Gästen und des aggressiven Bettelns beschuldigt. Auch die Anweisung der evangelischen Kirchengemeinde, seine Treppe, seinen Kraftort, bis zum 13.03. zu räumen, sieht er als Ausdruck mangelnder Menschlichkeit. Javi fühlt sich alleingelassen vom Sozialamt, das ihm als Schwerbehinderter nach eigener Aussage keine behindertengerechte Unterkunft geben will. Ein Wohncontainer sei ihm angeboten worden, diesen lehne er jedoch ab.

Angst vor der Zukunft hat Javi jedoch nicht. Er ist radikaler Optimist. Deshalb macht er sich auch keine Gedanken darüber, wohin seine Reise ihn führen würde, sollte er die Treppe der Heiliggeistkirche wirklich räumen müssen. Ob in Heidelberg oder einer anderen Stadt der Welt, er wird weiter Menschen im Herzen berühren. Denn genau das bedeutet authentisches Pilgern für Javi: Eine Reise von einem Herzen zum nächsten.

by Daniel Adler

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